Was für ein Start in das neue Jahr. Man wird den Eindruck nicht los, dass uns auf vielen Ebenen eine Welle überrollt, der wir auf den ersten Blick nicht viel entgegenzusetzen haben. Terror, Gewalt sind eine Seite, Umweltzerstörung und die Schnelllebigkeit auf unserem Globus eine andere.
Die Frage, die sich viele Menschen sicher in diesen Tagen stellen, ist, was wir tun können. Was jeder für sich tun kann, um nicht zu verzweifeln an der derzeitigen Dramatik unserer Geschichte. Ich habe in den letzten Tagen sehr genau das Geschehen im Internet verfolgt. Habe viele Berichte, Verschwörungstheorien und Kommentare gelesen. Was mich wirklich erschreckt hat, war, mit welcher Vehemenz die Menschen aufeinander losgehen. Dahinter steckt meiner Ansicht nach schlichtweg eine Überforderung, eine Überschreitung der Schmerzgrenze, die uns auf unsere alten, evolutionär angelegten Programme zurückwirft. Wir wissen um unsere Hilflosigkeit, also heißt die Devise: Kampf oder Flucht. Alles, was wir nicht fassen können, versuchen wir zu bekämpfen oder wir laufen davon.
Zu den Auslösern dieses Mechanismus gehören: Frustration, Verweigerung des persönlichen Respekts, unfaire Einengung des Selbstbestimmungsrechtes, Verletzung von Ehre und Reputation, also Rufschädigung. Aber auch das Fehlen von zwischenmenschlichen Beziehungen und sozialen Vernetzungen.
Die “Gegenspieler” wären demnach Bindung, Akzeptanz und Zugehörigkeit. Lassen wir die Religionen und all die Fragen rund um das Thema Islam, ob man ihn nun bekämpfen, gewähren lassen oder resprektieren soll, mal außen vor.
Allein schon die Einsicht, dass wir alle Menschen sind – ja auch der Terrorist – schafft ein anderes Verständnis für Zusammenhänge und für Lösungen. Wir kommen nicht als gewaltbereite Wesen auf diese Welt, weder als radikaler Islamist noch als bibelfester Christ, sondern als hilfsbedürftige Individuen. Als Liebende und Liebesbedürftige. Allerdings – und das hat die Neurologie schon bestens erforscht – sind wir auch als Säuglinge nie unbelastet, sondern tragen gewisse familiäre Prägungen schon in uns. Diese werden durch Erfahrungen gestärkt oder gelöscht – je nachdem, in welchem Umfeld wir aufwachsen. Ich will jetzt gar nicht soweit in die Psychologie abdriften, aber für mich gibt es zwei ganz wesentliche Faktoren, die dazu beitragen könnten, dem, was hier aus dem Ruder läuft, eine andere Richtung zu geben.
Bindung und Bildung
Ein Mensch, dessen Bindungsbedürfnis in der Kindheit und auch später ausreichend beantwortet wurde, wird nicht gewalttätig, weil er mit der Bindung Werte, Empathie und ein Gewissen ausbilden konnte. Das ist jetzt natürlich sehr vereinfacht dargestellt und wir wissen alle, dass wir uns die Erfahrungen der Kindheit nicht aussuchen konnten und dass die Kindheit für die wenigsten unter uns harmonisch und im Sinne einer ausreichenden Bedürfnisbefriedigung abgelaufen ist. Trotzdem kann es uns auch noch nachträglich gelingen, uns vor mentaler Überlastung zu schützen, damit wir nicht selbst in den Strudel der Aggressivität und Abwertung geraten. Der Schlüssel hierzu heißt Achtsamkeit.
Das mag in einigen Ohren rührselig und naiv klingen. Nach dem Motto: Achtsamkeit gegen Terror? Ja genau, denn der Terror fängt in unseren Köpfen an. In jedem von uns. Und je schneller die Welt sich dreht, je weniger Bindung, Verbindung und Anbindung wir spüren, umso bedrohlicher wird das ganze Szenario für uns und umso aggressiver werden wir. Achtsamkeit führt zu Bewusstheit. Das heißt, ich bin mir dessen, was ich denke und tue, bewusst. Würde jemand, der wirklich bewusst ist, andere terrorisieren? Die Umwelt zerstören? Gierig über Leichen gehen? Nein.
Weitet man die Achtsamkeit des Einzelnen auf die Masse aus, können daraus Programme entstehen, die helfen würden, wirklich etwas zu verändern. Damit sind wir beim Thema Integration. Flüchtlinge sich selbst zu überlassen und darauf zu hoffen, dass sie sich einfügen, das kann nicht funktionieren. Diese Menschen sind entwurzelt, dass heißt, jeglicher Bindung beraubt. Oft sind sie traumatisiert. Ein Land, das Flüchtlinge aufnimmt, ist meiner Ansicht nach dazu verpflichtet, dafür zu sorgen, dass diesen Menschen ein würdevolles “Einleben” ermöglicht wird, das auch Räume für die psychische Gesundung schafft. Kurse, therapeutische Versorgung und die Einbindung in soziale Strukturen sollten Standard sein.
Der zweite Punkt ist das Thema Bildung.
Auch Bildung führt zu Bewusstheit und Achtsamkeit. Aber nicht die reine Wissensvermittlung. Bildung – in diesem Wort steckt doch eigentlich das, was es erreichen sollte. Es geht um die Bildung einer Gestalt, um die Formung. Was wäre denn wichtig zu lernen? Was sollten unsere Kinder bekommen? Ein Handwerkszeug dafür, wie sie sich in dieser Welt achtsam bewegen. Lebendiges Lernen und Verstehen, nicht Anhäufung von trockenen Theorien.
Neulich habe ich etwas entdeckt, das mich sehr beeindruckt hat und von dem ich mir wünschen würde, das es Schule macht. Ein Kurs, in dem Kindergarten- oder Schulkinder die Gelegenheit bekommen, ein Baby in Interaktion mit seinen Eltern zu beobachten. Dieses Programm nennt sich B.A.S.E. (“Baby-Beobachtung im Kindergarten und in der Schule gegen Aggression und Angst zur Förderung von Sensitivität und Empathie”) und wurde vom Münchner Bindungsforscher PD Dr. med. Karl Heinz Brisch an der Kinderklinik und Poliklinik im Dr. von Haunerschen Kinderspital der Ludwig-Maximilians-Universität München entwickelt. Ein Baby als Friedensstifter? Was etwas unglaubwürdig daherkommt, hat sich in der Praxis als sehr wirkungsvoll erwiesen. Bisherige Ergebnisse zeigen, dass durch diese Beobachtungen, die Empathiefähigkeit der Kinder gefördert wird. Sie übertragen diese Fähigkeit schnell auf ihren Alltag, verhalten sich also gegenüber Freunden und Klassenkameraden sozialer, feinfühliger und angstfreier – unterm Strich also weniger aggressiv. Mehr Infos unter www.base-babywatching.de
Jeannette Hagen ist freie Autorin und Systemischer Coach. Neben eigenen Publikationen schreibt sie für die .garage berlin, Kunstleben Berlin und das Stadtteilzentrum Steglitz regelmäßig Blogbeiträge. Schwerpunktthemen ihrer Arbeit sind: Psychologie, Motivation, Gesellschaft, Beziehungen und Literatur.