Stellen Sie sich vor es ist Krieg. Stellen Sie sich vor, dass die einzige Chance, die einzige Hoffnung für Sie und Ihre Angehörigen darin liegt, Ihr Bündel zu schnüren, Ihre Heimat zu verlassen und dort hin zu gehen, wo Frieden ist. Wo es Nahrung, Strom und warmes Wasser gibt. Vielleicht auch ein bisschen Freude. Die weite Reise schreckt Sie nicht ab. Auch nicht das viele Geld, das Sie denen zahlen müssen, die Sie möglicherweise auf illegalen Wegen Ihrem Ziel näher bringen. Wochen oder Monate sind Sie unterwegs. Mit nichts außer Ihrem Leben und den wenigen Habseligkeiten, die man auf solch einer Flucht am Mann tragen kann. Wie es ausgeht? Sie wissen es nicht. Aber das ist allemal besser, als auszuharren, die Grausamkeiten auszuhalten oder der Ungewissheit ins Gesicht zu starren.
Ich habe in der letzten Zeit oft versucht, mich in die Menschen hineinzuversetzen, die vor Krieg, vor Hunger und vor dem Terror im eigenen Land flüchten. Und ich habe versucht, diejenigen zu verstehen, die Montag für Montag auf die Straße gehen, um ihrer Angst vor der drohenden „Überschwemmung Deutschlands“ durch Flüchtlinge, vor allem durch Muslime Ausdruck zu verleihen. Viel wurde dazu veröffentlicht, viel diskutiert und gesagt und wenn ich ehrlich bin, dann stehe ich am Ende da und habe den Eindruck, dass nicht der Flüchtling der Fremde für mich ist, sondern all jene, die sich in letzter Zeit auf die Fahne schreiben, das Volk sein zu wollen.
Passend dazu las ich neulich einen Artikel in der Süddeutschen Zeitung. In ihm stellte die Autorin Hannah Beitzer fest, dass wir Deutschen – obwohl alle unter einem Dach beheimatet, mehr und mehr in Parallelwelten leben. Dass sich immer mehr Deutsche in ihr Privatleben zurückziehen, in ihren „Blasen“ bleiben, ohne sich mit den Meinungen der anderen auseinandersetzen zu müssen und dass so etwas, wie eine deutsche Leitkultur überhaupt nicht existiert. „ Es gibt in Deutschland nicht nur eine Kluft zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen oder Pegida und Anti-Pegida. Sondern zwischen allen möglichen gesellschaftlichen Gruppen und Schichten. Die meisten umgeben sich gerne mit Menschen, die ähnliche politische Einstellungen, ähnliche Werte, einen ähnlichen Bildungsabschluss, ähnliche Lebensentwürfe haben.“ schreibt Beitzer und spricht mir damit aus der Seele. Mangelnder Integrationswille wird den Menschen, die zu uns kommen vorgeworfen. Dabei stellt sich die Frage: Wie integriert sind Sie? Wie integriert bin ich oder der, der immer montags demonstriert? Können wir uns eigentlich mit dem, was hier in diesem Land politisch, kulturell, gesellschaftlich gerade geschieht, überhaupt identifizieren? Und wenn ich das schon nicht kann und Sie und Ihr Nachbar das vielleicht auch nicht können, wie soll das dann einem Flüchtling gelingen?
Aber reden wir erst einmal über Zahlen. „Deutschland ist das Flüchtlingsheim Europas“ titelte „Die Welt“ im Oktober 2014 und beklagt mit dem sich anschließenden Artikel die mangelnde Bereitschaft anderer EU-Staaten Flüchtlinge aufzunehmen. Was der Artikel nicht sagt, ist die Tatsache, dass Deutschland und auch Europa weit davon entfernt sind, Hauptziel von Flüchtlingen aus Kriegsgebieten zu sein. Es ist eher so, dass von den 45,2 Millionen Flüchtlingen weltweit rund 80 Prozent in Entwicklungsländer, meist in jene an die Heimat angrenzenden Nachbarländer fliehen. Trotzdem steigt die Zahl derer, die Schutz suchen, derzeit wieder an. Derzeit heißt in diesem Zusammenhang, dass die Zahl derer, die Asyl suchen, schon einmal deutlich höher war. Im Jahr 1992 wurden EU-weit 670.000 Anträge auf Asyl gestellt. 2012 waren es 335.365 Anträge. Wir sind also weit von einer Schwemme entfernt. Um zu verstehen, warum das so ist, muss man nicht darüber munkeln, dass diese Menschen alle ins Schlaraffenland wollen, sondern man braucht sich nur das Geschehen in den Krisenherden dieser Welt anzusehen. Würden Sie in Syrien bleiben? In Afghanistan? Ich nicht. Und – auch wieder ein Fakt: gemessen an der Bevölkerungszahl, liegt Deutschland mit seiner Flüchtlingsstatistik Eu-weit an zehnter Stelle. Wobei noch dazu kommt, dass wirklich nur ein kleiner Prozentsatz dieser Menschen dann auch wirklich hier bei uns bleibt. 2012 lag die Zahl bei 14 Prozent, 2013 bei 13,5 Prozent.
Aber das sind Zahlen. Zahlen, hinter denen sich Schicksale verbergen. Und damit kehre ich wieder zu meiner Frage zurück. Sind diese Menschen denn wirklich so fremd? Was unterscheidet sie von Ihnen und mir? Ist der Unterschied größer als der zwischen mir und einem Einwohner Hamburgs? Zwischen mir, die ich in einer Mietswohnung lebe und jenen, die ein Haus besitzen? Zwischen mir und denen, die an Gott glauben? Zwischen mir und jenen, die aus der EU einfach so in unser Land kommen, um hier zu arbeiten? Nein, ist er nicht. Und darum bin ich der Ansicht, dass man sie auch nicht so behandeln sollte, als seien sie Fremde.
Wenn ich momentan innerlich gegen etwas protestiere, dann nur gegen die Art und Weise, wie man Asylsuchenden bei uns (und in anderen EU-Ländern) entgegentritt, wie sie versorgt oder nicht versorgt, willkommen geheißen oder besser nicht gerade willkommen geheißen werden. Das sind Punkte, auf die sich die Aufmerksamkeit richten sollte, denn wenn die stimmen, dann geschieht Integration meist von selbst, von innen heraus. Andersherum: Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie in einem reichen Land wie Deutschland ankommen und mit 250 anderen Menschen unterschiedlichster Nationalitäten, die ebenso wie Sie teils monatelang unterwegs waren, zusammengepfercht wie Vieh untergebracht werden, um dann wiederum monatelang auf irgendeine Entscheidung zu warten? Wenn Sie tagtäglich in einer Turnhalle sitzen und Sie sich aus diesem Umkreis auch nicht wegbewegen können? Schürt das den Wunsch nach Integration?
Warum ist es nicht Usus, dass für Flüchtlinge angemessene Unterkünfte bereitstehen? Dass es ein schnelleres Verfahren, ein gerechtes Verfahren gibt, das über die Zukunft entscheidet? Dass sie – wenn es länger dauert – arbeiten dürfen, um sich selbst ihren Lebensunterhalt zu verdienen? Das sind für mich Fragen, die an die Politik gerichtet werden sollten. Und damit sind wir wieder bei den eingangs angesprochenen Parallelwelten, denn der Punkt ist, wen interessiert das wirklich? Die, die demonstrieren sicher nicht. Überhaupt insgesamt zu wenige, denn der überwiegende Teil der Deutschen ist scheinbar mehr mit sich selbst beschäftigt und scheut sich davor, sich in irgendeiner Form gesellschaftlich und politisch einzubringen. Darum ringen nicht nur politische Parteien um Mitglieder, sondern auch Institutionen, die auf ehrenamtliches Engagement angewiesen sind. So sagt der Berliner SPD-Fraktionschef Raed Saleh zu Recht, dass der derzeitige Flüchtlingsstrom die Gesellschaft nicht überfordere. Es sei lediglich eine Frage der Organisation, für jeden Flüchtling eine angemessene Unterkunft zu finden. “Wir haben den Willen zur Menschlichkeit”, betont Saleh gegenüber der Berliner Morgenpost. Und damit trifft er den Kern. Flüchtlinge sind keine Fremden. Sie sind Menschen wie Du und ich und darum sollten wir sie auch genau so willkommen heißen und dazu kann und sollte jeder einen Beitrag leisten. Wir sollten denen, die alles verloren haben, etwas zurückgeben. Nicht von Einwohner zu Fremden, sondern von Mensch zu Mensch.
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Jeannette Hagen ist freie Autorin und Systemischer Coach. Neben eigenen Publikationen schreibt sie für die .garage berlin, Kunstleben Berlin und das Stadtteilzentrum Steglitz regelmäßig Blogbeiträge. Schwerpunktthemen ihrer Arbeit sind: Psychologie, Motivation, Gesellschaft, Beziehungen und Literatur.