Ein Anruf!

Eigentlich wollte ich schon vor ein paar Tagen einen kleinen Artikel schreiben. Aufhänger war eine Familientragödie in Bayern. Ein Vater hatte seine Söhne und anschließend sich selbst getötet. Ich war entsetzt und wollte mit dem Schreiben eine Form finden, meine Gefühle auszudrücken, mein Entsetzen darüber, dass sich solche Fälle – egal ob Selbstmord oder erweiterter Selbstmord scheinbar häufen. Ich habe das Schreiben jedoch abgebrochen, weil ich plötzlich Zweifel hatte, ob das Thema vermischt mit meinen Emotionen in den Blog des Stadtteilzentrums gehört. Heute nun bekam ich zufällig einen Flyer in die Hände, der für mich die Brücke schlägt und mit seinem Inhalt das, was mir eigentlich auf der Seele brennt, verdeutlicht. Es geht um eine Aktion, die 2010 von einigen Ärzten und Therapeuten ins Leben gerufen wurde und die meines Erachtens nach wie vor große Aufmerksamkeit verdient. Darum bitte ich Sie gleich, bevor ich tiefer eintauche darum, das hier zu verbreiten, darüber zu sprechen, zu schreiben oder es auf andere Weise in die Welt zu tragen, denn wir können nicht länger sitzen und die Augen vor etwas verschließen, das uns alle betrifft.

AUFRUF ZUR PSYCHOSOZIALEN LAGE IN DEUTSCHLAND

“Wir sind Fachleute, die Verantwortung für die Behandlung seelischer Erkrankungen und den Umgang mit psychosozialem Leid in unserer Gesellschaft tragen.
Wir möchten unsere tiefe Erschütterung über die psychosoziale Lage unserer Gesellschaft zum Ausdruck bringen.”

Mit diesen Worten beginnt der Aufruf und damit ist schon viel gesagt. Wir brauchen nicht einmal mehr die Statistik, die folgt, um zu wissen, dass es wahr ist. Wir stehen an einer Grenze. Wenn immer mehr Menschen keinen anderen Ausweg mehr sehen, als sich selbst und ihre Kinder zu töten, wenn psychische Erkrankungen unseren Alltag bestimmen und ein Burn Out schon fast zum Lebenslauf dazugehört, dann stimmt- gelinde gesagt – etwas nicht. Und es ist an uns, das zu ändern. Da ist jeder einzelne gefragt, denn die Lösung liegt direkt vor uns. Es ist ein kleiner Faden namens Achtsamkeit, der, wenn wir ihn erst einmal wieder aufnehmen, einiges ins Rollen bringen kann.

Werden wir wieder achtsam, dann fällt uns auf, dass wir – mögen wir noch so hochintelligente Wesen sein – unser Leben an vielen Stellen aus der Hand gegeben haben. Wir haben es teilweise dem technischen Fortschritt, dem Leistungsdenken, dem Profit, der Mobilität, dem virtuellen Leben geopfert. Wir haben uns doppelt und dreifach versichert, haben eigene Verantwortungen an andere abgegeben. An Politiker, Ärzte, Versicherungsmakler oder an einen Guru.
Das Ergebnis der Entwicklung haben wir jeden Tag vor Augen. Obwohl wir von außen betrachtet mehr als reich sind (relativ gesehen) – fehlt offensichtlich etwas, denn die wenigsten von uns würden behaupten, dass sie so richtig glücklich sind.
Ich will hier weiß Gott keine Lebensweisheiten von mir geben, aber ich habe während meiner Arbeit mit Menschen immer wieder erleben dürfen, was passiert, wenn jemand es schafft, das Ruder seines Lebens wieder selbst in die Hand zu nehmen. Sich nicht als Opfer der Umstände, sondern als aktiv Handelnder zu begreifen. Der erste Schritt dorthin ist die Achtsamkeit sich selbst gegenüber. Stillwerden. Fühlen – wie geht es mir überhaupt? Bin ich auf meinem Weg? Wie geht es den Menschen um mich herum mit mir? Es erfordert Mut und Ehrlichkeit, sich diesen Fragen zu stellen. Denn ehrliche Antworten verlangen nach Konsequenzen. Aber das ist dann schon der nächste Schritt.

Ich jedenfalls hoffe, dass es nicht bei dem Aufruf zur psychosozialen Lage in Deutschland allein bleibt – sondern, dass er uns wachrüttelt, erinnert und zum Handeln motiviert.

Ihre Jeannette Hagen

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