Sicher haben Sie es schon gehört oder gelesen: Der Hauptverdächtige im Fall des zu Tode geprügelten Jonny K., Onur U., ist in Berlin verhaftet worden. Er hat sich den Behörden gestellt und sitzt nun in Untersuchungshaft. Einen Tag nach dem Geburtstag, den Jonny K., wenn er dann noch leben würde, gestern gefeiert hätte.
Was mich an dieser und an der Geschichte von Giuseppe M., der im September 2011 auf dem Kaiserdamm in den Tod gehetzt wurde, berührt und wirklich tief beeindruckt, ist die Art und Weise, wie die Personen um die getöteten jungen Männer herum, ihre Trauer verarbeiten. Wie tapfer die Schwester von Jonny K. sich dem, was passiert ist stellt und ihre Trauer kreativ in Taten umsetzt, um die Aufmerksamkeit der Menschen auf diese Tat zu lenken. Wie engagiert die Freundin von Giuseppe M. mit der Stiftung für ein Mahnmal kämpft, das an all die Opfer erinnern soll, die auf diese schreckliche Art ums Leben gekommen sind, oder verletzt wurden.
Ich verneige mich wirklich vor diesem Einsatz. Und ich möchte an dieser Stelle eine Geschichte einstellen, die ich an dem Tag geschrieben habe, als Giuseppe M. getötet wurde. Es ist nur ein kleiner Beitrag, aber ich hoffe, das er zeigt, wie dicht Leben und Tod beeinander sind und dass es unsere Aufgabe ist, solche Verbrechen ins Bewusstsein der Menschen zu rücken, damit wir nicht mehr und mehr abstumpfen.
Einfach leben!
Manchmal ändern sich Dinge überraschend. Vorhaben werden abgebrochen,
Meinungen geändert, Pläne über den Haufen geworfen. In meinem Fall betrifft es nur
das Post-Thema, das ursprünglich angedacht war. In dem Fall, über den ich heute
schreiben will, verändert es das Leben einer Familie.
Aber ich will am Anfang beginnen.
Es ist Samstagmorgen. Ich muss früh raus, weil ich einen Termin in Meißen habe.
Eine Art Reporter-Job. Ich bin eingeladen, ein Sport-Event zu dokumentieren. Also
klingelt der Wecker zeitig, ich quäle mich aus dem Bett, mein Lebenspartner spaziert
eine Runde mit dem Hund und bringt mir vom Bäcker einen Kaffee mit.
„Stell dir vor, vorn am Kaiserdamm, da muss richtig was passiert sein. Da ist alles
abgesperrt und die Polizei malt Kreidestriche auf die Fahrbahn.“
„Hmm“ antworte ich, in Gedanken schon auf der A13 Richtung Dresden.
Ein paar Stunden später stehe ich im Sportdress mit 50 von 120 anderen
Teilnehmern in einem Saal. Stehen ist der falsche Begriff, denn ich bewege mich und
zwar ziemlich wild zu mitreißender Musik. „Feel free“ heißt der Workshop.
Spätestens nach dem dritten Lied, nachdem ich den Alltag und alles, was mich
beschäftigt, abgeschüttelt habe, fühle ich mich auch so. Ich bin bei mir und in
meinem Körper angekommen. Dann dröhnt der Song: „I will survive!“ aus den
Lautsprecherboxen.
Plötzlich bin ich berührt. Mehr als das, ich bin innerlich ergriffen. Vielleicht im
Vollrausch der Endorphine, jedenfalls schreit es in mir: „Nein, ich will nicht überleben,
das habe ich lang genug gemacht. Jetzt will ich leben!!!“
Später auf der Autobahn, ausgepowert und trotzdem voller Ideen für eine schöne
Story, höre ich in den Nachrichten, was heute Morgen, ein paar Stunden, bevor mein
Wecker geklingelt hat, passiert ist. Dass dort, wo ich schon so viele Male die Straße
überquert habe, ein junger Mann gestorben ist. Einen völlig sinnlosen Tod. Und
plötzlich fließen meine Geschichte und seine zusammen.
Ich will leben. Denn: Jedem von uns kann das passieren. Binnen Sekunden kann das
Leben vorbei sein. Wusch, Peng, Krach und dann endlose Stille.
Ich will leben. Jeden Augenblick genießen, Freude empfinden und mir stets bewusst
sein, dass dieses Leben keine Selbstverständlichkeit ist. Dass es so schnell vorbei
sein kann, wenn man zur falschen Zeit am falschen Ort ist. Meine Gedanken sind
heute oft bei der Familie des jungen Mannes. Ich wünsche ihnen von Herzen, dass
sie dieses schmerzhafte Ereignis verarbeiten können und auch zurück zum Leben finden.
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