Geschichte(n) aus der Nachbarschaft

Berliner Nachbarschaftsheime blicken auf hundertjährige Tradition zurück

Wenn Irmgard* auf ihre ersten Begegnungen im Nachbarschaftsheim zurückblickt und erzählt, wie ihr amerikanische GIs nach dem Krieg im Vorraum des Gutshauses Lichterfelde am Hindenburgdamm 28 Milch in ihr Kännchen abgefüllt haben, wird es sehr ruhig im Gruppenraum des Nachbarschaftshauses. Die heute fast 80-jährige berichtet über Zerstörung und Not, über Entbehrungen und die Unterstützung und Hilfe durch die alliierten Soldaten. Und viele hören zum ersten Mal von der langen Tradition deutscher Nachbarschaftsheime – vor und nach dem 2. Weltkrieg.

1913 – also genau vor 100 Jahren – war es der evangelische Pfarrer Friedrich Sigmund Schultze, der die “Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost” (SAG) gründete. Vorbild war die Londoner “Toynbee Hall”. In London entstand schon zum Ende des 19. Jahrhunderts in der sog. Settlement-Bewegung die Idee der späteren Nachbarschaftheime: Studenten und Angehörige aus besser gestellten Kreisen gingen freiwillig in die Armenviertel der englischen Hauptstadt und halfen den dort lebenden Menschen mit der Vermittlung von Wissen, Hilfe zur Selbsthilfe, mit medizinischer Versorgung und mit Beratung in juristischen und sozialen Belangen. 

Diese Idee wurde später auch in Hamburg, Leipzig und vielen anderen deutschen Städten aufgriffen. Die ersten Volksheime in Berlin, die als Aussenstellen der SAG nach 1913 in Berlin entstanden, organisierten vielfältige Hilfsangebote für die ärmsten der Stadt. Nach der Machtergreifung der Nazis wurde die SAG verboten und die bestehenden Volksheime aufgelöst. 

Im Rahmen eines “alliierten Nachbarschaftsheimplanes”, der 1944 als Teil des “Reeducation-Progams” formuliert wurde, wurden gleich nach dem Krieg sieben Nachbarschaftsheime in Berlin gegründet und eröffnet. Im Bezirk Steglitz-Zehlendorf waren das Nachbarschaftsheim Steglitz am Hindenburgdamm und das Nachbarschaftsheim Mittelhof die Anlaufstellen und Orte, die die Aufgabe übertragen bekamen sich um die Grundversorgung der Bevölkerung, um Hilfe zur Selbsthilfe und um die “demokratische Bildung und Umerziehung” in der Nachbarschaft zu kümmern.

In den ersten Jahren noch unter alliierter Leitung wurden Suppenküchen, Nähstuben, Kultur- und Debattiergruppen aber auch erste Angebote der Kinder- und Jugendbetreuung entwickelt. 

Ab den 1950er  Jahren rückte immer deutlicher der “sozialpädagogische Ansatz” in den Vordergrund. Die ärgste Not in der Bevölkerung war gelindert, neue – vor allem soziale – Fragen traten in den Vordergrund. 

1951 gründete sich der Verband deutscher Nachbarschaftsheime, der sich 1971 seinen heutigen Namen gab – Verband für sozial-kulturtelle Arbeit. Diese Umbenennung Anfang der 1970er Jahre war wiederum Ausdruck einer veränderten Grundausrichtung, die sich auch nach dem Eindruck der Studentenbewegung immer stärker an politischer Teilhabe, Mitgestaltung der Lebensbedingungen und dem Prinzip der “Gemeinwesenarbeit” orientierte. In der Folge entstanden auch und vor allem in Berlin zahlreiche Stadteilläden und -projekte, die Selbsthilfebewegung erlebte einen ungeheuren Aufschwung. Nach dem Mauerfall schwappte diese Welle auch in den Ostteil der Stadt, wo nach und nach (zunächst über Instrumente der Arbeitsmarktförderung finanziert) zahlreiche Nachbarschafts- und Stadtteilprojekte entstanden. 

Aktuell werden in Berlin 38 Nachbarschafts- und Stadtteilzentrum aus Mitteln des sog. “Stadtteilzentrumsvertrages” zentral durch die Senatsverwaltung für Soziales gefördert. Die Aufgaben heute sind vielfältig und anspruchsvoll: Stadtteilzentren bieten nach wie vor “Hilfe zur Selbsthilfe”, sie kümmern sich nach wie vor um die Belange armer und benachteiligter Menschen. Sie bieten darüber hinaus  auch Raum für Gruppen, für Selbstorganisation und Ehrenamt. Sie unterstützen durch Beratung und soziale Dienste. Sie sind Initiatoren und Moderatoren von Entwicklungs- und Vernetzungsprozessen im Stadtteil und sie sind Träger sozialer Einrichtungen wie Kitas, Schulprojekten, Jugendfreizeiteinrichtungen, Senioreneinrichtungen u.v.m. 

Irmgard freut sich, dass sie heute – fast 70 Jahre nach ihrem ersten Besuch im Nachbarschaftshaus am Hindenburgdamm – immer noch auf “den gleichen Geist” tritt, den sie damals – als kleines Mädchen – erleben durfte: Jede/r ist willkommen, das Haus ist “offen für alle” – und gemeinsam schaffen viele kleine Leute manchmal große Dinge. Zufrieden blickt sie in die Runde. Junge Menschen, alte Menschen, viele verschiedene Menschen. Die Geschichte(n) aus der Nachbarschaft werden jeden Tag neu erlebt und erzählt.

 (erschienen in der StadtteilZeitung des Stadtteilzentrum Steglitz e.V., Ausgabe Mai 2013, Autor: Thomas Mampel)

 

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