Wenn ich schreibe, dass wir in einer Welt leben, die sich in den letzten Jahrzehnten rasant verändert hat, dann entrückt Ihnen das vielleicht gerade mal ein müdes Gähnen, denn es ist keine Nachricht mehr, sondern längst eine Tatsache. Ebenso wie die unübersehbare Realität, dass wir kaum noch in der Lage sind, dem zu folgen und uns an diese Veränderungen anzupassen. Wir schöpfen längst nicht mehr alle Möglichkeiten aus, die uns der Fortschritt bietet.
Warum? Weil das unser Gehirn überfordert. Zu viele Informationen, zu spezialisiert, zu komplex – die begrenzte Datenaufnahmekapazität und die dem Menschen doch irgendwie auch eigene Trägheit lässt uns aussieben, manchmal auch verweigern oder rebellieren. Ein Rädchen in diesem kompakten System ist der Fakt, dass die Lernmethoden mit denen heute noch an den meisten Bildungseinrichtungen gelehrt wird, immer weniger zu dem passen, was vor den Türen von Kindergärten, Schulen und Universitäten passiert.
Ich weiß nicht, ob Sie den Film “alphabet” gesehen haben. Darin kommt André Stern zu Wort, der selbst nie auf einer regulären Schule war und heute trotzdem viele Sprachen spricht, Musiker, Komponist, Gitarrenbaumeister und Autor ist. Sein Lernprinzip war, dem eigenen Interesse und der Begeisterung zu folgen. Etwas ganz Ähnliches habe ich heute auf ZEIT ONLINE gelesen. Dort erzählt ein Studienabbrecher – ein education hacker – davon, wie er sich seine Bildung selbst zusammenstellt. Darüber schreibt er auf seinem Blog, gibt Workshops und plant, demnächst eine eigene Firma zu gründen. Spinner? Randerscheinungen? Nein. Ich glaube eher, dass solche Beispiele in die richtige Richtung weisen.
Nicht, dass Sie mich falsch verstehen – ich will keinesfalls für Schulverweigerung oder Uniabbruch plädieren. Ich glaube nur, dass es notwendig ist, die Lernkonzepte so zu verändern, dass sie unserem modernen Leben gerecht werden. Was wir am dringendsten brauchen, sind Erfahrungen. Die werden allerdings beim Frontalunterricht kaum vermittelt. Man kann natürlich wochenlang über die Alpen sprechen, lesen, referieren. Aber wie es ist, auf einen Berg zu steigen, die Natur wahrzunehmen, das Wetter zu beobachten, die eigenen Kräfte einzuschätzen – das lernt man nur, wenn man vor Ort ist. Lebendige Lernkonzepte würden zu Erfahrungen verhelfen. Es gab auf KIKA mal eine sehr schöne Dokumentation über eine Klasse, die gemeinsam mit zwei Lehrern eine Alpenüberquerung gemeistert haben. Das war für alle so lehrreich, solch ein Erfahrungsschatz – das könnte theoretisch niemals vermittelt werden. Und es hat mit Sicherheit alle Kinder auf ganz individuelle Weise gefördert und gefordert.
Der nächste Punkt ist nämlich das System der Gleichbehandlung, das momentan vorherrscht. Wir sind aber nicht gleich. Wir sind individuell. Mit Stärken und Schwächen. Man kann einem Fisch nicht das Klettern beibringen und einem Hasen nicht das Tauchen. Doch Schule macht genau das. Warum soll meine Tochter an einem Stufenbarren turnen können, wenn sie dafür – schon rein körperlich – nicht die besten Voraussetzungen hat? Andererseits kann sie aber hervorrragend zeichnen – eine Begabung, die in der Schule nur mäßig unterstützt wird.
Später jedoch – in Unternehmen oder in der Arbeitswelt sind die individuellen Fähigkeiten wieder wichtig. Da sucht man keine Fische, die mittelmäßig klettern können, weil man sie mal gezwungen hat, das zu lernen. Da will man Spezialisten, Fachleute und möglichst welche, die schon viele Erfahrungen auf ihrem Gebiet gesammelt haben.
Früher oder später wird sich unser Bildungssystem ändern müssen. Menschen, wie André Stern oder Ben Paul sind Vorreiter. Pioniere, die uns den richtigen Weg weisen können, wenn wir uns mit ihren Geschichten befassen.
Ich wünsche Ihnen schöne Osterfeiertage – Zeit, die Natur zu genießen. Zeit für sich selbst, für die Familie und für Freunde!
Ihre Jeannette Hagen